Stephen King versorgt seine Leser:innen jedes Jahr mit neuem Lesestoff und das seit fünfzig Jahren. Unbestritten haben sich die Inhalte seiner Romane verändert. Mit »Holly« setzt er sich ein Denkmal im Genre Krimi-Mainstream.
Ins Buch geschaut
640 Seiten starkes Hardcover mit Schutzumschlag. Leider kein Lesebändchen, die Vorsatzblätter sind nicht farbig, sondern in der normalen Seitenfarbe. Äußerlich somit nicht spannend gestaltet. Am Ende der Geschichte befindet sich die Nachbemerkung von Stephen King. Übersetzt hat den Roman Bernhard Kleinschmidt.
Der Inhalt
»Holly« kennen King-Leser aus den »Mr. Mercedes« – Bänden und »Blutige Nachrichten« im gleichnamigen Kurzgeschichtenband.
Stephen King hat einen Charakter geschaffen, dem er einen kompletten Roman widmen wollte. Das ist ihm mit »Holly« in jedem Fall gelungen.
Darum geht es – die Haupthandlung:
Ein älteres Professorenehepaar – Emily und Roddy – frönt der gemeinsamen Leidenschaft, Menschen zu kidnappen und im Keller in einen Käfig zu sperren. Holly, deren Mutter vor Kurzem an Corona verstarb, wird beauftragt ein verschwundenes Mädchen zu finden. Sofort wird klar, dass beide Handlungsstränge miteinander verknüpft sind. Während sie den Verlust ihrer Mutter verarbeitet, zu der sie kein gutes Verhältnis hatte und deren Tod ihr einige Überraschungen beschert, widmet sich Holly ihrem Auftrag und findet heraus, dass in der Gegend bereits seit Jahren Menschen spurlos verschwinden.
Parallel führt uns Stephen King immer wieder in die Vergangenheit zu Emily und Roddy und deren Machenschaften. Während ich, als Leserin, weiß, wer die Entführer sind, tappt Holly im Dunkeln, allerdings nicht lange. Akribisch beginnt sie die Suche nach den Verschwundenen und kommt dem verrückten Ehepaar dabei gefährlich nahe.
Das Thema
Wer auf mystischen Begebenheiten, übernatürliche Erklärungen oder phantastische Horrorelemente wartet, wird enttäuscht. King setzt auf Ekel und aktuelles Tagesgeschehen. Corona und die politische Entwicklung in Amerika gehören zur Handlung dazu. Er hält der Gesellschaft einen Spiegel hin, wie in keinem seiner anderen Romane zuvor. Er räumt auf. Und so greift er in den Nebenhandlungen auch Themen auf, die den inzwischen 76 Jahre gereiften Stephen King vermutlich selbst beschäftigen: Die Angst vor dem Altern, die damit verbundenen Schmerzen und Krankheiten, die Angst als bekannte Persönlichkeit vergessen zu werden, die Angst ein Kind zu verlieren, die Angst vor Lügen und Betrug. Und genau diese Nebenhandlungen machen das Buch lesenswert. Tatsächlich erscheint es mir ein sehr persönliches Buch zu sein.
Auf Seite 200 habe ich überlegt, den Roman abzubrechen. Das verrückte Ehepaar, der Grund des Kidnappens, die kriminalistischen Handlungen – das ist nicht mein Ding. Doch ich entscheid mich gegen den Leseabbruch und bin am Ende froh darüber. Ich hätte viele von den kleinen, leisen Dingen, mit denen sich King in seinem Roman beschäftigt, verpasst. Vor allem die tolle Freundschaft zwischen der jungen Barbara, der alten berühmten Dichterin Olivia Kingsbury und deren Pflegerin Marie hätte ich nicht miterleben können.
Der schönste Satz des Buches: Mit ihr stirbt eine Welt aus Worten.
Fazit
»Holly« ist ein Thriller, eine Geschichte mit einer weiblichen, authentischen Detektivin und einem intelligentem, durchgeknallten Täterpaar. Hinterlistige Bösartigkeit, egoistischer Wahn, subtiler Ekel-Horror und das alles in diese Zeit versetzt. Früher habe ich gesagt, Stephen King vermischt den Horror mit der Realität. Jetzt IST der Horror die Realität ohne jegliche mystische oder phantastische Aspekte. Die vielen kleinen Nebenhandlungen im Buch, die hauchdünne Fäden zur eigentlichen Geschichte ziehen, runden den Roman für mich ab und machen ihn – ja, ich würde sagen: Gut.
Tipp
Vor einigen Wochen habe ich Bernhard Kleinschmidt, den Übersetzer der Stephen King Romane interviewt. Das Interview wird im Magazin phantastisch!, in der nächsten Ausgabe erscheinen, die ab Januar 2024 erhältlich sein wird.
Hinweis:
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Danke an den Heyne Verlag für das Rezensionsexemplar.