Leseprobe
Prophezeiungen
Moritz miaute, rieb sein Köpfchen an Jasmins Bein und krallte sich in ihrer Socke fest. Doch sie hatte keine Zeit, mit dem Kater zu spielen. Jasmin bastelte ein Fensterbild für ihre Oma, denn in wenigen Tagen war Weihnachten. Als Moritz ihr eine handgroße Frau – die er vorsichtig zwischen den Zähnen hielt – auf den Schreibtisch legte, sah Jasmin auf. Moritz maunzte zufrieden und sprang auf das Bücherregal, wo er sich zusammenrollte und leise schnurrte.
Mama Hobbijahns blaugelocktes Haar klebte an der verschwitzten Stirn. Sie fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Jasmin, du musst uns helfen!«
Noch nie hatte sie Mama Hobbijahn verängstigt gesehen, obwohl Jasmin sie und ihr Volk schon seit über vier Jahren kannte. Es lebte zwischen Staubfeen und verschollenem Spielzeug versteckt unter Jasmins Bett. Außer Moritz wusste niemand davon.
Jasmin legte die Schere zur Seite, überlegte kurz und steckte sie dann in ihre Hosentasche. Mama Hobbijahn setzte sie sich auf die Schulter und eilte zu ihrem Bett. Allmählich wurde Jasmin zu groß, um darunterzukriechen, aber es gab keine andere Möglichkeit, zu den Hobbijahns zu gelangen.
Staub stieg ihr in die Nase. Sie nieste und stieß sich den Kopf am Lattenrost.
»Beeil dich, Jasmin, beeil dich!«
Jasmin schloss die Augen und zählte eins … zwei … drei … vier … fünf …
Wo zuvor die Holzbeine ihres Bettes gestanden hatten, ragten nun rosa blühende Bäume in den blauen Himmel. Das Laminat war weichem Moos gewichen.
Rechts befand sich der Steinbrunnen, auf dem die Gesichter der Oberhäupter eingemeißelt waren. Vor allem die Zwillingsbrüder unter den Hobbijahns mochte Jasmin sehr. Während Tebbijahn und Tobbijahn sich so ähnlich sahen, dass niemand die beiden auseinander halten konnte, ähnelten sich Pebbijahn und Pobbijahn nur im Wesen. Pebbijahn war groß und dürr. Seine blauen Haare standen wild vom Kopf ab und mit den smaragdgrünen Augen wirkte er verträumt, doch Jasmin wusste, dass Pebbijahn intelligent und aufgeweckt war. Sein Bruder Pobbijahn, klein und dick wie ein Ballon, bändigte seine blauen Haare mit einem Stück Schilf und die gelben Augen leuchteten, als seien sie der Sonne entnommen worden.
Alle Hobbijahns hatten blaue Haare. Sie trugen Latzhosen, aber keine Schuhe. Ihre Hände und Füße schillerten regenbogenfarbig. Sie waren ein friedliches Volk und Jasmin fühlte sich stets wohl bei ihnen.
Diesmal schlug ihr jedoch eine bedrückte Stimmung entgegen. Aufgeregt plappernde Hobbijahns hatten sich um den Brunnen versammelt. Das sonst so farbige Schimmern ihrer Hände und Füße hatte sich in ein stumpfes Dunkelgrau verwandelt.
Das Sprudeln des Brunnenwassers, das Jasmin stets mit einem Plätschern begrüßte, fehlte.
Die Hobbijahns verstummten, als sie Jasmin entdeckten und machten ihr Platz. Sie setzte sich auf den Boden; vorsichtig, um nicht eines der kleinen Wesen zu zerquetschen.
Wie immer kletterten einige der Hobbijahns an Jasmin hoch und verteilten sich auf ihre Knie, den Kopf und die Schultern.
Das Schweigen und die Stille ertrug Jasmin nur schwer. Der Volksälteste, der Weise Hobbijahn, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jasmin legte ihre Hand auf den Boden, er stieg darauf und sie hob ihn an ihr Gesicht.
»Wir benötigen dringend deine Hilfe!«
Die Stimme des Weisen Hobbijahns klang ernst.
Am liebsten las Jasmin alleine in ihrem Zimmer, zeichnete oder bastelte. Freunde hatte sie nicht viele und noch nie hatte jemand sie um Hilfe gebeten. Sollte sie nicht besser gehen, um das Bild für Oma fertig zu basteln?
»Lass es mich erklären«, begann der Weise Hobbijahn. »Hebbijahn glaubte nie an unsere Sagen. Er verspottet Geister, Hexen und Zauberer. Doch die magischen Wesen leben am Ende unseres Landes. Sie bereiten sich mit viel Sorgfalt auf das magische Fest vor. Alle 200 Jahre kommen sie dafür hervor, feiern und tanzen durch das Land. Eine besondere Nacht für alle Wesen!«
Er schwieg einen Moment. »Nur ausgewählte Hobbijahns dürfen daran teilnehmen. Und unsere Wahl fiel auf Hebbijahn.«
Der Weise Hobbijahn ließ seinen Blick über das Volk schweifen. Einige nickten ihm aufmunternd zu, auch Jasmin. Dadurch fiel Kribbijahn, der auf ihrem Kopf gesessen hatte, in ihren Schoß – genau auf Pebbijahn und Pobbijahn. Sie quietschten und schimpften. Ein Gewirr aus zappelnden Armen und Beinen, bis Jasmin Kribbijahn an seiner Hose hochzog und zurück auf ihren Kopf setzte.
»In den Büchern unserer Großväter wird von der Verbannung der Ungläubigen und der Ausrottung des Volkes bei Ablehnung der magischen Nacht geschrieben. Hebbijahn glaubte weder an diese Überlieferung, noch an die magischen Wesen, die ihn an ihrem nächtlichen Festakt teilhaben lassen wollten. Und nun ist es zu spät, ihn davon zu überzeugen.« Der Weise Hobbijahn schüttelte traurig den Kopf. »Er lachte uns aus, als wir ihm die Entscheidung überbrachten.«
Jasmin sah sich um, Hebbijahn entdeckte sie nirgends.
»Nachdem Hebbijahn abgelehnt hatte, wirkte der Zauber: Er verschwand auf der Stelle und mit ihm das Wasser.«
Die Füße und Hände der Hobbijahns verfärbten sich von grau in schwarz. Sie mussten große Angst verspüren. Auch Jasmin fürchtete sich, denn sie ahnte, welche Bitte der Weise Hobbijahn aussprechen würde, darum nahm sie ihm die Frage vorweg: »Ich soll Hebbijahn zurückholen?«
Der Weise Hobbijahn nickte. Jasmin senkte ihre Hand und er rutschte hinunter.
»Ja, nur ein Kind ist dazu in der Lage.«
Tausend Fragen schossen Jasmin durch den Kopf. War sie nicht viel zu jung für solch eine Aufgabe? Jasmin drehte sich um und sah zum Ausgang dieser Welt; dorthin, wo sie in ihr Zimmer zurückgelangte.
Doch sie ließen ihr keine Wahl: Mama Hobbijahn kam auf Jasmin zu. Sie mühte sich mit einer Umhängetasche ab, die für Jasmin passend, für die Hobbijahns aber viel zu groß und zu schwer war.
»Nimm die Tasche mit, ihr Inhalt wird dir helfen, wenn du Fragen hast und dich sättigen, wenn dich der Hunger quält.«
»Wie viel Zeit habe ich?«
»Drei Tage«, sagte der Weise Hobbijahn.
»Und wenn ich Hebbijahn nicht finden kann?«
»Das wirst du«, war der Weise Hobbijahn überzeugt. »Du musst! Geh jetzt.«
Jasmin wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Bis auf Pebbijahn krabbelten alle Hobbijahns von ihr herunter. Pobbijahn reichte ihr ein für ihn riesiges und schweres Seil. Sie hängte es sich gemeinsam mit der Tasche um den Hals und steckte die Arme hindurch. Nun hing das Seil auf der rechten Seite, die Tasche auf der linken. Zum Abschied gab ihr Pebbijahn einen Kuss auf die Wange.
Könnte sie nicht nach Hause rennen und die Hobbijahns für immer vergessen?
»Pass auf dich auf!«, »Kehr bald zurück!«, »Viel Glück!«, »Wir denken an dich!«, »Sei vorsichtig!«, »Du schaffst das!«
Hoffnungsvolle Rufe der Hobbijahns begleiteten Jasmin, als sie in den Brunnen stieg. Angst schnürte ihre Kehle zu.
Allein
Der Brunnen war so riesig, dass ein Elefant hindurchgepasst hätte, wenn einer in der Nähe gewesen wäre. Die Wand fühlte sich trocken an, als sei das Wasser nicht erst vor kurzem versiegt, sondern schon vor etlichen Jahren. In regelmäßigen Abständen befanden sich Einbuchtungen, in die Jasmin ihre Füße stellte.
Jeder Schritt brachte sie der Dunkelheit näher. Sie sah nicht nach unten, und nur einmal nach oben, ins Licht. Dort glaubte sie als Pünktchen die Hobbijahns auszumachen. Sie wollte rufen. Sie wollte winken. Doch die Furcht davor, das Gleichgewicht zu verlieren, ließ sie schweigen und weiter hinabsteigen. Sie durfte die Hobbijahns nicht enttäuschen, denn sie waren immer für Jasmin da gewesen: Als ihr Papa ausgezogen oder der Opa gestorben war. Sie hatten sie getröstet, als Susi, ihre Katze, aus dem Fenster gesprungen und nie wieder zurückgekehrt war.
Nun musste Jasmin sie trösten und ihnen helfen.
Aber sie hatte nicht geahnt, dass Hilfe geben Angst verursachte.
Jasmin nahm all ihren Mut zusammen und setzte einen Fuß nach dem anderen in die Brunnenwand.
Weiter und weiter. Die Dunkelheit umhüllte sie und Jasmin schloss die Augen, konzentrierte sich.
Ihre Arme schmerzten und ihre Beine wurden schwer. Sie zitterte.
Wieder setzte sie einen Fuß tiefer, doch dort, wo eine Einbuchtung sein musste, fand sie keine. Jasmin riss die Augen auf. Dunkelheit. Hektisch tastete sie mit dem Fuß an der Wand entlang. Nichts! Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihr wurde schlecht. Langsam stellte sie sich wieder auf die letzte vorhandene Lücke in der Wand.
Und jetzt?
Die Augen fest zugepresst, weinte sie leise. Und allein. Jasmin widerstand der Versuchung, ihre Tränen wegzuwischen, stattdessen öffnete sie die Augen in der Hoffnung, endlich wieder Licht zu sehen. Für einen Moment war sie so erschrocken über die Helligkeit, die sie umgab, dass sie überrascht aufschrie.
»Hallo«, wisperte eine piepsige Stimme. Und noch einmal: »Hallo!«
Jasmin rief Hebbijahns Namen. Doch die Antwort fiel enttäuschend aus: »Ich heiße Balduin!«
Ein Lichtschleier umkreiste sie, der sich auf ihre Nase setzte und den sie nun als großen Schmetterling erkannte.
»Du bist Balduin?«
»Natürlich, oder siehst du sonst noch jemanden? Was tust du hier in meinem Brunnen? Ich finde es unglaublich, dass du es wagst, in mein Reich einzudringen, und außerdem: Was bist du überhaupt? Du hast ja gar keine Flügel. Und ich will auch gar nicht mit dir sprechen. Vermutlich bist du total doof, sodass ich mich nicht mit dir unterhalten kann, und bestimmt kannst du mir auch nicht sagen, warum kein Wasser mehr im Brunnen ist! Hast du das geklaut? Irgendwie ist es ja auch mal schön, nicht immer im Wasser fliegen zu müssen. Ich weiß halt nur nicht, ob meine Flügel dann auch noch lange leuchten. Mein Opa hatte nämlich nichtleuchtende Flügel, musst du wissen, und das nur, weil er immer und immer wieder den Brunnen verlassen hatte. Ich möchte aber weiter leuchtende Flügel haben. Aber das verstehst du ja sicherlich nicht, du hast ja keine. Auf jeden Fall muss ich das Wasser wieder haben. Hast du es? Dann gib es mir! Hörst du?«
Dieser Schmetterling redete so schnell, dass ihr schwindelig wurde.
»Sei doch mal endlich leise!« Um Balduin anzusehen, musste sie schielen. Und nun fing er auch noch an zu lachen. Er kicherte so stark, dass er das Gleichgewicht verlor und von Jasmins Nase rollte. Doch er fing sich in der Luft und flatterte zu ihr zurück.
»Wer bist du? Was bist du? Und warum bist du hier?«
»Ich bin ein Mädchen. Mein Name ist Jasmin und ich muss den Hobbijahns helfen.«
Balduin neigte seinen Kopf zur Seite. »Was du nicht sagst! Du hilfst den Hobbijahns? Davon musst du mir erzählen. Komm!«
»Ich kann nicht weiter.«
»Das musst du auch gar nicht. Du bist doch längst da. Dummerle.«
Balduin flog langsam an ihr hinab und seine leuchtenden Flügel zeigten ihr den Boden. Mit ausgestrecktem Fuß nicht erreichbar, aber auch nicht so weit entfernt, dass sie sich verletzen würde. Jasmin presste die Lippen aufeinander und die Augen zu, dann sprang sie. An ihrer Seite eine Portion Mut. Und Balduin.
Sie landete auf den Füßen, ging in die Knie und atmete erleichtert aus.
Jasmin hatte nicht gesehen, dass Balduin direkt vor ihr gewesen war. Der Luftstoß beförderte ihn einige Flügelschläge weit fort. Blitzschnell war er zurück, setzte sich wieder auf Jasmins Nase und fing an zu schimpfen: »Wie kannst du es wagen! Ich bin so klein. Beinahe wäre ich an der Wand des Brunnens zerschellt. Aber das kümmert dich ja nun gar nicht. Ihr Jasmins seid unverschämt und gedankenlos! – Du wolltest mir etwas von den Hobbijahns erzählen.«
Erschöpft sank Jasmin auf den Brunnenboden, der mit Moos bedeckt zu sein schien. Weich und einladend.
Balduins Flügel spendeten ein wenig Licht.
Und so erzählte Jasmin von Hebbijahns Verbannung.
Balduin kommentierte ihren Bericht ab und an mit einem »Oh!« oder »Ach!«
Als Jasmin geendet hatte, schwieg er einen Moment, dann lachte Balduin.
»Nein, wie komisch. Das ist ja so lustig. Musst du so seltsam gucken?«
Doch Jasmin war nicht zum Lachen zumute. »Kannst du mir helfen?«
Balduin setzte sich auf Jasmins Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: »Na, klar. Balduin kann jedem helfen. Ich kenne hier unten jeden Winkel. Aber ich habe noch keinen Hobbijahn gesehen. Es könnte sein, dass er im schwarzen Schloss gefangen gehalten wird. Dort bin ich bisher nie hingeflogen. Aber ich zeige dir gern den Weg.«
Jasmin hatte sich genug ausgeruht.
»Dann lass uns gehen. Die Zeit rennt uns davon.«
»Jaja, immer diese Zeit. Ich kann sie nicht essen und sie sieht nach nichts aus. Oder hat sie ein Gesicht in deinem Land – die Zeit? Ich würde sehr gern mit dir ins Land der Hobbijahns gehen. Kannst du mich auch mit in deine Welt nehmen? Wenn ich mir das so richtig überlege, würde ich schon gern mehr sehen als meinen dunklen, steinigen Brunnen. Aber was wird dann aus meinen leuchtenden Flügeln? Ach, es ist schon schwer, ein Falter zu sein.«
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