In der Aprilausgabe 2009 (No. 34) von phantastisch! erschien das Interview mit Keith Donohue.
»Wenn meine Charaktere sich weigern … bringe ich sie um.«
Interview mit Keith Donohue von Nicole Rensmann
Mit seinem Debüt »Das gestohlene Kind« erregte Keith Donohue Aufsehen in Amerika und zahlreichen anderen Ländern. Der 1960 in Pittsburgh, Pennsylvania geborene Schriftsteller, lebt heute mit seiner Familie in Washington.
Er studierte an der Duquesne Universität in Pittsburgh und machte anschließend seinen Doktor (Ph.D.) in Englisch an der Catholic Universität von Amerika. Er arbeitete bei der amerikanischen nationalen Kulturstiftung in Washington, wo er u.a. für das nationale Archiv zuständig war.
Ab 1998 verfasste er bei »National Endowment for the Arts« Ansprachen für die Vorsitzenden John Frohnmayer und Jane Alexander. Zudem schrieb er Artikel für The New York Times, The Washington Post, The Atlanta Journal-Constitution und zahlreiche andere Zeitungen.
2002 veröffentlichte Keith Donohue seine Dissertation »The Irish Anatomist: A Study of Flann O´Brien«.
Mit dem 2006 publizierten Romandebüt »The Stolen Child« (»Das gestohlene Kind«) schaffte er den Sprung als erzählender Autor in die Bestsellerlisten. Die Filmrechte wurden kurz nach Erscheinen des Romans verkauft. Zu einer Verfilmung kommt es aktuell noch nicht.
In diesem Jahr erschien Keith Donohues neuester Roman.
Ihr in den USA im März 2009 veröffentlichter Roman »Angels of Destruction« erscheint bei uns im Herbst 2009 unter dem Titel »Der dunkle Engel«.
Wieder spielt ein Kind die Hauptrolle und dennoch ist es – wie auch bei »The Stolen Child« – kein Jugendroman.
Welche Erfahrungen muss das Kind in »Der dunkle Engel« durchleben?
Eine der Hauptcharaktere ist Norah, ein 9-jähriges Mädchen, außerdem ihre Klassenkameraden. Sie verbringt viel Zeit mit Margaret Quinn, der Frau, die sie aufnimmt, als sie in einer kalten Januarnacht plötzlich vor ihrer Tür steht. Die Leser bemerken schnell, dass Norah kein gewöhnliches Kind ist. Das Buch handelt von mehreren Kindern, und sie durchlaufen sowohl normale, als auch magische Erfahrungen – genau wie Kinder im wirklichen Leben. Aber es handelt nicht wirklich von Kindern, sondern von Hoffnung und Verlangen.
Ein Bild »Engel« von Paul Klee hat Sie zu »Angels of Destruction« inspiriert. Was haben Sie in dem Bild gesehen, dass Sie den Engel zu einem Hauptcharakter machen mussten?
Ich kam zu Paul Klees Engel-Gemälden durch Walter Benjamins Aufsatz über Engel in »Thesen über die Philosophie der Geschichte«, worin er Klees »Angelus Novus« als eine Art allegorische Figur für den Wechsel vom Weltglauben ans Übernatürliche zum Glauben in einen eher stumpfen Realismus benutzt. Nachdem ich Benjamins Essay gelesen hatte, sah ich mir alle Engel-Gemälde von Klee an und las über ihre Herkunft in Klees späteren Lebensjahren und über seinen Ausspruch »Einst werd ich liegen im Nirgend, bei einem Engel irgend«, den ich als Epigraph für mein Buch verwendete.
Paul Klee hat eine kleine Serie an Bildern zum Thema Engel gemalt, welches genau hat Sie inspiriert?
Viele Engel inspirierten mich. Ich bin ebenso angetan von Wallace Stevens Gedicht »Angel Surrounded by Paysans« und vom Nichts in seinem Gedicht »Der Schneemann«. Es sind keine gewöhnlichen Engel in »Angels of Destruction«, aber ich bin gespannt, wie die Leser darauf reagieren werden.
Mögen Sie die Bilder von Paul Klee grundsätzlich? Oder welche Gemälde hängen bei Ihnen zuhause an der Wand?
Ich liebe Klees Gemälde und war erst neulich überaus begeistert, sein Bild »Der Künstler« im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Ich kann mir keinen Klee für mein eigenes Haus leisten, und daher besteht die Kunst an meinen Wänden größtenteils aus Fotografien, die meine Frau gemacht hat oder aus „anonymen“ Dingen, die wir auf unseren Reisen gefunden haben.
Auch für »The Stolen Child« hat Sie ein anderes Kunstwerk inspiriert: W.B.Yeats Gedicht mit dem gleichen Titel, indem es um irische Feen geht, die Kinder in ihren Bann ziehen. Sie sind, so behaupten Sie selbst, kein Künstler, interessieren sich aber für Kunst.
Jemand, der ein Buch wie »Das gestohlene Kind« geschrieben, ist – Verzeihung wenn ich hier widersprechen muss – sehr wohl ein Künstler, einer der Erzählungen und der Worte.
Sie vermischen demnach die eigene Fantasie, die besondere Art zu schreiben mit der Kunst eines anderen Künstlers. Und das auf phantastische Art und Weise.
Welches Bild, welches Gedicht, welche Skulptur fasziniert Sie so sehr, dass Sie dazu in Kürze oder in einigen Jahren einen Roman schreiben müssen?
Ich entscheide mich nicht bewusst, über einen Kunstgegenstand zu schreiben, die Arbeiten fallen einfach in meine Werke ein, und ich kann nicht voraussehen, was zu dem jeweiligen Moment meine Aufmerksamkeit erregen wird. Das Buch an dem ich im Moment schreibe ist zu Teilen von einem Gemälde von Klimt, einem Gedicht von Emily Dickinson und einem Stummfilm von Joseph Cornell inspiriert, aber es beinhaltet ebenso Züge von Samuel Beckett und den »American tall tales« (Wild-West-Stories aus dem 19. Jh.).
Wie all diese Dinge zusammenfinden ist noch ein Mysterium, aber der Dreh von allem.
Laut Verlag wurden kurz nach Erscheinen von »The Stolen Child« die Filmrechte verkauft. Doch seit dem ist es ruhig um eine Verfilmung. Woran liegt das?
Wir sehen uns momentan nach einem anderen Produzenten um, der die Filmrechte für »The Stolen Child« übernehmen kann. Wenn ihr also irgendwelche Filmmacher kennt, lasst es meinen Agenten wissen.
Welchen kindlichen Schauspieler wünschen Sie sich für die Rolle von Henry Day?
Als man begann, über den Film zu reden, sah ich Freddie Highmore (Neverland, Charlie und die Schokoladenfabrik) als einen möglichen Jungen, aber nun ist er schon zu alt. Beim erwachsenen Henry bin ich mir weniger sicher. Ich habe ihn mir immer als eine Art Glenn Gould vorgestellt.
Hat der Nachname eigentlich eine tiefere Bedeutung? Day? Day – der Tag, der in Henrys Leben alles veränderte? Der Tag an dem er weglief, von den Wechselbälgern gekidnappt und ausgetauscht wurde? Henry Day? The Day?
Nacht und Tag, Tag und Nacht.
Faszinierend an »The Stolen Child« ist der Wandel des richtigen Henry Days und des Kobolds, der sein Leben übernimmt. Vor allem aber, der Wandel, den der Leser durchmacht: Von Wut gegen den Kobold bis zu Mitleid, weil auch er nichts weiter als Liebe, Zuneigung, Familie sucht, die er einst wie Henry Day verlor. Nur weil er weggelaufen ist.
Welchen Zwiespalt hatten Sie beim Schreiben? Zu welchem Henry haben Sie sich mehr hingezogen gefühlt?
Ich habe versucht, beide Charaktere glaubhaft zu gestalten – unvollkommen wie wir alle nun einmal sind, aber die meisten von uns auf ihre Art liebenswert. Mein Konflikt bestand in dem Drahtseilakt, stets zu wissen, was im Leben des jeweils Anderen passierte als sich die Beiden entwickelten.
Die Wechselbalg-Gruppe ist manchmal überraschend lieb, dann wieder erschreckend bösartig. Wie in realen Cliquen gibt es hier Freundschaft und Hass, aber der Zusammenhalt scheint oft so verräterisch. Beruht diese Art der Gruppe auf Beobachtungen oder Erfahrungen in der Realität?
Familien, sowie Gruppen enger Freunde, die wie Familien erscheinen, wenn sie eine gemeinsame Erfahrung verbindet, wie zum Beispiel in einem College oder in einer Kaserne oder in einemVolksstamm zusammenzuleben. Eine große, falsch funktionierende Familie. Es gibt übrigens 12 von ihnen, wie bei den Aposteln und allen möglichen legendären Gruppen.
In 2009 sind, laut Verlagswebseite, mehrere Lesungen geplant. Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Lesereise auch nach Deutschland zu verlegen?
Ich würde sehr gerne nach Deutschland kommen, aber das Buch müsste schon ein großer Hit werden, um sich die Reise leisten zu können. Die Familie meiner Frau lebt in Ulm, und sie selbst wurde in Deutschland geboren und lebte dort eine Weile. Vor ein paar Jahren reisten wir nach Bayern und Schwaben und haben es geliebt.
Wie würden Sie sich selbst in wenigen Worten beschreiben?
Ich bin ein normaler Mann mit einem normalen Beruf in einem normalen Haus mit einem normalen Hund und einer außergewöhnlichen Familie.
Wie sieht Ihr Schreiballtag aus? Hören Sie Musik beim Schreiben, wie entspannen Sie Und was machen Sie, wenn die Charaktere nicht das tun, was Sie wollen?
Mein Arbeitstag ist in Einzelteile fragmentiert. Ich schreibe in der U-Bahn, wenn ich zur Arbeit fahre oder von der Arbeit komme, beim Essen in einem Café um die Ecke und wo immer ich ein paar Wörter herausdrücken kann. Manchmal höre ich Musik, aber nur wegen der Hintergrundberieselung, manche Hintergrundgeräusche kann man mit Konzentration vertreiben. Wenn meine Charaktere sich weigern, meinen Anordnungen Folge zu leisten, bringe ich sie um. Besser so, als anders herum!
Aber ernsthaft, man weiß nie, wie die Geschichte sich entwickeln wird bis die Wörter dann wirklich geschrieben sind, und ganz wie die Leser freuen auch wir Autoren uns darauf, überrascht zu werden.
Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!
Webtipps:
Die offizielle Website des Autors
Rezension zu »Das gestohlene Kind«
Rezension zu »Der dunkle Engel«
Copyrights:
Cover: Randomhouse
Foto: Cade Martin
Text: Nicole Rensmann / phantastisch!