Gelesen: »Wind« und »Zwischen Nacht und Dunkel« von Stephen King

WINDZwischen Nacht und DunkelWarum ich zwei Bücher in einer Rezension zusammenfasse, hängt mit dem Inhalt und natürlich dem Autor zusammen. Als ich 2009 hörte, Stephen King würde doch noch einmal zu Roland und seinem Ka-Tet zurückkehren, hatte ich gemischte Gefühle. Zum einen war ich begeistert und voller Vorfreude. Auf der anderen Seite konnte ich mit dem Ende des siebten Teils der Saga um den schwarzen Turm gut leben. Damals spekulierte ich sogar, dass Stephen King nicht an den 7. Band anknüpft, sondern ein paar Kurzgeschichten schreibt, die zwischen den bereits geschriebenen Romanen handeln. Nun, Stephen King liest anscheinend meinen Blog. Denn genau dieser Spekulation ist er gefolgt. Leider, muss ich sagen. Nachdem »Wind« erschien, habe ich das Buch lange nicht zur Hand genommen – unabhängig vom Inhalt. Das wiederum lag auch an »Zwischen Nacht und Dunkel«, denn die erste Novelle in dem Buch sagte mir nicht zu. Auch sonst hatte ich wenig Lust auf das Geschriebene meines früheren Lieblingsautors. Dann kam »Joyland«. Das Buch begeisterte mich und ich nahm die Lektüre von »Zwischen Nacht und Dunkel« wieder auf. Und nicht nur das, ich wagte mich auch an »Wind« heran.

WINDEin Wiedersehen mit dem Ka-Tet

Wie würde es wohl sein, Roland Deschain und sein Gefolge wieder zu treffen? Es fühlte sich seltsam an, und in dem Moment als ich dachte, ich bekomme nach all den Jahren seit Erscheinen des 7. und letzten Bandes »Der Turm« in 2004 wieder einen Zugang zum Ka-tet, suchten die Vier inklusive Bumbler Oy Schutz vor einem Sturm, verschanzten sich in einem Haus, setzten sich ans Feuer und Roland – der Revolvermann weniger Worte – beginnt Geschichten zu erzählen. Und so endet bereits auf S. 48 das Treffen mit dem Ka-tet. Stephen King benutzt die Mittwel, statt eines Wiedersehens mit lieb gewonnenen Charakteren, für  zwei Mittwelt-Novellen.
»Der Fellmann« – Teil 1 mit knapp 100 Seiten und der 2. Teil »Der Fellmann«, der von Seite 261 bis 405  zu lesen ist, erzählt ein Abenteuer, das Roland in jungen Jahren erlebt hat. Unterteilt wird die Geschichte von »Der Wind durchs Schlüsselloch«. Dieses 206 Seiten starke Märchen über den Jungen Tim, der seinen Vater verliert und seine Mutter vor dem volltrunkenen Stiefvater beschützen muss, war ein spannendes, trauriges und mutiges Palaver, dem ich gerne beigewohnt habe.
Auf den letzten 5 1/2 Seiten nehmen wir erneut Abschied von Roland, Jake und Oy, Susannah und Eddie. Ich gehe davon aus, dass es diesmal für immer sein dürfte.

Ich hätte mir hier mehr Ka-Tet oder nur »Der Wind durchs Schlüsselloch« gewünscht. »Wind« ist kein neuer Roman aus der Mittwelt, sondern wirkt wie ein Zusammenschnitt von Gedankenfetzen aus Mittwelt, die Stephen King noch in der Schublade liegen hatte, aus einer Zeit, als er intensiv am dunklen Turm gearbeitet hat. Die Saga um den Dunklen Turm und den Revolvermann war – aus meiner damaligen Sicht – genial. Sie wurde beendet, sie muss nicht wieder krampfhaft fortgesetzt oder ergänzt werden.
Stephen King erklärt in seinem Vorwort, dass er »Wind« als Band 4.5 bezeichnen würde und der Leser nicht unbedingt die vorherigen Bände kennen muss, um »Wind« zu verstehen. Dem möchte ich nur bedingt zustimmen. Auf den ersten 48 Seiten fallen hier und da Wörter, wie z.B. der Balken, unter denen sich ein Leser, der noch keins der Bände vorab gelesen hat, nicht viel vorstellen kann. Möglicherweise muss er das auch nicht, das kann ich nicht entscheiden, denn ich habe sie alle gelesen … und geliebt. »Wind« ist jedoch keine Ergänzung zum Dunklen Turm, sondern eher einer Novellensammlung, ähnlich »Zwischen Nacht und Dunkel«. Doch während Stephen King in »Wind«  das Geschichten erzählen dem Revolvermann überlässt und somit den Storys einen spezielles Ambiente bietet, muss er bei »Zwischen Nacht und Dunkel« selbst ran.

Zwischen Nacht und Dunkel4 x Dämmer-Licht und viel Schatten

Hier wählt er bei allen vier Geschichten eine für uns bekannte Gegenwart, auch wenn die erste Geschichte nicht nur »1922« heißt, sondern auch in dieser Zeit seinen Anfang nimmt. Wilfried ist leidenschaftlicher Farmer, doch seine Frau hasst das Landleben und überredet Jahre lang ihren Mann, in die Stadt zu ziehen. Erfolglos. Das Unausweichliche steht bevor: Die Scheidung. Doch da wäre ja noch der 14-jährige gemeinsame Sohn Henry. Wilfried will ihn nicht verlieren. Doch Arlette, seine Frau, verlangt ihn mit in die Stadt zu nehmen. Ein Scheidungskrieg bleibt aus, denn Wilfried hegt einen bösartigen Plan. Er überredet seinen Sohn, ihm bei der Ermordung seiner Frau – und somit Henrys Mutter – zu helfen. Tatsächlich gelingt es ihm, seinen Sohn zu manipulieren und schließlich töten sie Arlette. Alles scheint perfekt geplant. Doch wer das Horror-Genre kennt, weiß … die Toten kehren manchmal zurück.

Und da liegt für mich auch das Problem. Stephen King vermochte es schon immer, den alltäglichen Wahnsinn in eine normale Handlung einzuknüpfen. Vor zwanzig Jahren, noch vor zehn Jahren las ich diesen Wahnsinn mit Freuden und Herzklopfen. Heute ist mir dieser Wahnsinn zu realitätsnah. Und nach unendlich vielen Romanen und Storys aus dem Horror-Genre finde ich Geister, die sich rächen, unspektakulär. Mich hat die fast 200 Seiten starke Novelle leider nicht begeistert.

Bei »Big Driver«  ging es mir ähnlich. Tess lebt allein, sie ist eine ehrgeizige, erfolgreiche Schriftstellerin, die typische Frauenromane schreibt – so behauptet sie selbst. Lesungen hält sie für eine Pflicht und legt das Honorar als ideale Altersversorgung an. Nach einer Lesung nimmt sie eine Abkürzung (für Insider: Mrs. Todd lässt grüßen) und fährt prompt in eine Falle. Sie wird überfallen, brutal vergewaltigt, (fast) erwürgt und anschließend entsorgt. Dort ist sie nicht das einzige Opfer des – wie sich nun herausstellt – Serienmörders, aber doch die einzige Überlebende. Sie flüchtet, kämpft sich bis nach Hause durch und dabei wird ihr klar: Wenn sie zum Arzt geht oder in ein Krankenhaus, wird die Presse davon Wind bekommen. Das muss sie vermeiden und fasst einen persönlichen Racheplan. Selbstjustiz hausgemacht. Die 150 Seiten lange Geschichte ist sehr spannend geschrieben und lässt einen das Buch nicht aus den Händen legen. Doch die Handlung ist vorhersehbar, und das leider von der ersten Seite an.

»Faire Verlängerung« ist mit 43 Seiten die kürzeste Geschichte im Buch. Dave Streeter hat sein Leben lang in Derry, Maine verbracht, er ist 51 Jahre alt, glücklich verheiratet, er hat Krebs, er wird sterben und macht dennoch zurzeit eine Chemotherapie, die ihn stark beutelt. Als Streeter mal wieder mit dem Wagen anhalten muss, um sich zu übergeben, entdeckt er ein Schild mit der Aufschrift FAIRE VERLÄNGERUNG – FAIRER PREIS. Er zögert zunächst, doch die Neugier siegt schließlich. Und was hat er schon zu verlieren? Und so lernt Streeter den pummeligen George Elvid kennen. Der Mann besitzt, so glaubt Streeter zunächst, eine gute Portion Humor, erzählt er ihm doch, welche Verlängerungen er in der Vergangenheit bereits verkauft habe. (Unter uns: Einige davon bekommt jeder immer mal wieder als SPAM angeboten). Doch Streeter will nur eins: Eine Lebensverlängerung. Doch die ist teuer. Noch denkt Streeter allerdings an einen Comedian mit einem psychologischen Problem, doch dann verändert sich George Elvid, und die heitere Stimmung verschwindet. Für eine Lebensverlängerung will Elvid nicht nur Geld – natürlich nicht. Um das Geschäft abzuwickeln, benötigt Streeter einen Menschen, den er hasst – und das ist sein bester Freund …
»Faire Verlängerung« ist zu Beginn sehr knackig, mit kleinen, versteckten Gruselhighlights und Witz an der richtigen Stelle. Doch die Handlung driftet in reichlich Spott und Habgier ab und ist so bösartig und am Ende sehr oberflächlich, dass es ein bisschen schmerzt. Dennoch: Die beste Story im Buch.
Das dachte ich zumindest, bis ich mich der vierten Novelle zuwandte:

Auf etwas mehr als 100 Seiten beweist Stephen King, dass »Eine gute Ehe« nicht alles ist. Auch Darcy lebt, Kinghäufigleser verstehen das, in Maine.  Dort lernt sie Bob kennen, sie heiraten, bekommen zwei Kinder, für die Darcy ihren Job aufgibt. Bob hat eine kleine Firma. Alles im normalen Rahmen, sie leben einfach, leben gut. Sie haben eine gute Ehe. Das glaubt Darcy und hätte sie jedem bestätigt, wenn jemand sie gefragt hätte, aber es fragt keiner. Auch dann nicht, als Darcy ahnt, dass ihre Ehe vielleicht gut, aber ihr Ehemann nicht das ist, was er 27 Jahre lang vorgab zu sein. Zufällig, so wie das immer ist, wenn es etwas zu entdecken gibt, findet sie in der Garage ein Magazin, das keine Ehefrau bei ihrem Ehemann finden möchte. Doch das hätte sie noch ignorieren können, wenn da nicht das Geheimfach war, in dem sie etwas fand, das einer jungen Frau gehörte, die – daran erinnerte sich Darcy genau – ermordet worden war. Darcy recherchiert und ihr wird klar, dass Bob ein zweites Leben führt, das sie nicht akzeptieren kann, aber auch nicht verstehen will. Was soll sie nur tun? Diese Frage stellt sie sich. Und nach einer ersten Lethargie sucht sie nach weiteren Beweisen für seine Unschuld, findet jedoch nur Bestätigung für seine Schuld. All das ist schon schlimm genug. Doch es kommt noch schlimmer.
Darcy, verdammter Mist, es tut mir so leid.
»Eine gute Ehe« ist eine wahnsinnig spannende Story, grausam, schrecklich, so furchtbar nachvollziehbar aus Sicht der Frau … und einem überraschenden Ende.  Aber wer weiß schon wie wir in Extremsituationen handeln? Diese Story zeigt, warum ich normalerweise keine Krimis lese (und schreibe). Sie ist zu nah an der Realität und wird mich noch eine Weile verfolgen. Und darum auf diese Art phantastisch.

Besonders empfehlenswert: Das Nachwort, in dem er nicht nur erzählt wie er auf die einzelnen Geschichten gekommen ist, sondern den Leser auch an die Hand nimmt und in den Sonnenschein führen möchte. Das ist neu, ich erinnere mich noch an King Vor- und Nachwörter, in denen er mich – den Leser – in den Wahnsinn zerren wollte.

Fazit: Eins hat Stephen King mit dieser Novellensammlung gezeigt, er weiß wie es geht. Natürlich weiß er das, er ist der Profi. Die Spannung beginnt bei allen Geschichten auf der ersten Seite, der Leser ist sofort in der Handlung. Anders sollte es bei einer Kurzgeschichte dieses Genres nichts sein. Und was Qualität und Storyline betreffen, sind die Geschichten – nach meiner Meinung – von schwach bis grandios der Reihenfolge nach sortiert.

Stephen King
Zwischen Nacht und Dunkel
Originaltitel: Full Dark, No Stars
Originalverlag: Scribne
Übersetzung: Wulf Bergner
Hardcover mit Schutzumschlag
528 Seiten
ISBN 978-3-453-26699-5
€ 19,99

 

Stephen King
Wind
Originaltitel: The Wind through the Keyhole
Übersetzung:  Wulf Bergner
Heyne Verlag, 09/2012
Hardcover mit Schutzumschlag
416 Seiten
ISBN 978-3-453-26794-7
€ 19,99

  • Der Roman ist auch als mp3 Download, als Hörbuch und als eBook erhältlich. Im November 2013 erscheint „Wind“ in der Taschenbuchausgabe.
  • Weitere Infos zu WIND beim Verlag 
 

© Cover: Heyne Verlag
© Text: Nicole Rensmann

Vielen Dank an den Heyne Verlag!

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