Vorab: »Puls« macht seinem Titel alle Ehre.Gern wird ja behauptet, englische oder amerikanische Autoren schrieben ohne den erhobenen Zeigefinger. Bei diesen Aussagen habe ich mich immer gefragt, ob ich die falschen Werke fremdländischer Autoren lese, ob ich zu viel in den Lesestoff hineininterpretiere oder ob diejenigen, die diese Meinung vertreten, Romane anders lesen als ich und somit den erhobenen Zeigefinger nicht entdecken oder nicht als solchen empfinden. Oftmals entpuppt sich dieser viel zitierte Zeigefinger als die für einen Roman so wichtige Prämisse. Zahlreiche Science Fiction-Autoren, die eine Zukunftswelt erschaffen, erzeugen diese aufgrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und mahnen die heutige Lebensweise an. Aber auch Dean Koontz beherrscht den mahnenden Zeigefinger perfekt, mal leicht angewinkelt, mal bösartig gestreckt, aber immer in Richtung Gesellschaft und Politik. Jasper Fforde streckt ihn in seinen »Thursday Next-Abenteuern« auf humorvolle Weise. Und Auch Stephen King prangert unter dem Deckmäntelchen des Horrors die Verhaltensmuster der Gesellschaft an – zuletzt in »PULS« bewiesen. In dem Roman ist der Zeigefinger so vertikal erhoben, dass der Leser Angst haben muss, sich ein Auge auszustechen.
»Puls« beschreibt ein Endzeitszenarium der modernen Art. Handys und Ghettoblaster dienen als Mordwerkzeuge. Wer »Bei Anruf Mord« gesehen hat, kann sich in etwa vorstellen, was Stephen King in seinem aktuellen Roman groß aufzieht. Jeder, der ein Handy besitzt und mit diesem ab einem bestimmten Zeitpunkt telefoniert, erhält nicht den gewünschten Ansprechpartner, sondern wird einem Puls – einem Handy-Virus – ausgesetzt, der ihn wahnsinnig macht. Nur wenige erfassen die Situation sofort und zucken nicht ihr Handy um die Polizei zu rufen, nachdem das Chaos ausbricht: Menschen fallen wie Tiere übereinander her und töten sich.
Der Künstler Clay, der homosexuelle Tom und das junge Mädchen Alice flüchten gemeinsam. Ihr erstes Ziel liegt in der Salem Street, in der Tom lebt. Dort schöpfen sie Kraft, essen, ruhen sich aus und versuchen, hinter dem Wahnsinn, der vor der Haustür wandelt, ein System zu entdecken. Rasch wird klar, dass sich die Handy-Leute zu Schwärmen zusammenraufen, sich verändern, nicht mehr brutal um sich beißen, sondern – wie neu programmiert – ein Ziel zu haben scheinen. Nur am Tag tauchen sie auf und somit verlassen die Drei das Haus in der Nacht. Clay sorgt sich um seinen 12-jährigen Sohn und seine von ihm getrennt lebende Frau. Er muss beide finden. Ab und an treffen sie auf „normale“ Leute, doch jede Gruppe geht ihren eigenen Weg, einen großen Zusammenschluss für einen Neuanfang gibt es nicht, wie vielleicht zu hoffen gewesen wäre. Erst als die Drei auf den 12-jährigen Computerfreak Jordan und den betagten Schuldirektor Charles Ardai stoßen, beginnt der gemeinsame Kampf gegen die wandelnden Schwärme. Doch dann nimmt alles einen anderen Verlauf. Es ist Macht im Spiel, jegliche Form von Parapsychologie findet Einsatz und lässt uns mit den Aufbrechenden mitfiebern. Nicht alle erreichen das vorbestimmte Ziel, weitere „Normies“, die ebenfalls versuchten die Schwärme zu töten, finden sich zusammen. Aber schnell wird klar, dass alles vorherbestimmt war, nicht von einer höheren, göttlichen Macht, sondern mit Hilfe der tödlichen Gedankenkraft der Handy-Leute, die den „Normies“ durch Träume vermitteln, wie sie auf ihrem Weg vorgehen sollen.
Wer Kings Werke kennt, wird sich nicht über das von Clay kurz vor der Katastrophe verkaufte Comic wundern, in dem ein Dunkler Wanderer vorkommt, der Ähnlichkeit mit einem gewissen Roland von Gilead aus der Saga um den Dunklen Turm hat. Auch Namen wie Tom und Harold oder einige Szenen scheinen aus Kings anderem Endzeitszenarium »The Stand – Das letzte Gefecht« vertraut. Auch wenn »Puls« nicht annähernd an Stephen Kings Besteller heranreichen kann, bietet der Roman spannende Unterhaltung. Fazit: Empfehlenswert!
Stephen King »Puls«
Originaltitel »Cell«
Hardcover
Heyne Verlag, 19,95 Euro
556 Seiten
Übersetzung von Wulf Bergner
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