Ein Brief an Helene Hegemann

Liebe Helene!

Ich denke manchmal daran, dass du so alt wie meine Tochter bist und auch wenn ihr glaubt, ihr seid erwachsen, ihr handelt nicht immer danach  – das könnt ihr auch noch gar nicht. Denn weißt du, du hast wirklich richtig großen Mist gebaut. Du kannst nicht einfach im Internet oder sonst wo herumstöbern und Texte anderer Autoren oder Verfasser verwenden, um sie unter deinem Namen an einen Verlag zu schicken. Es reicht auch nicht, eine Quelle anzugeben, von der du abgeschrieben hast. Quellen dienen nur zu Recherchezwecken. Wenn du zum Beispiel einen Roman schreibst, der in einer Zeit spielt, in der du noch nicht gelebt hast, dann recherchierst du darüber und findest Texte von Zeitzeugen, Wissenschaftlern oder auf Geschichtsseiten. Diese Personen und Seiten sind deine anzugebenden Quellen, aber von dort holst du dir  nur Informationen, keine bereits fertig geschriebenen Texte.

Dein aktuelles Handeln zeigt zwar, du kannst gut recherchieren und beweist auch, wie clever du bist. Aber nun hast du einen Ehrenkodex verletzt und eine Menge Autoren gegen dich aufgebracht. Natürlich haben schon große Literaten gestohlen, aber dein Vergehen mit Goethe & Co. zu vergleichen, klingt, als würdest du Erdbeeren und Chips als gleichwertige Nahrungsmittel bezeichnen. Und abgesehen davon: Nicht alles, was die Alten gemacht haben oder machen, ist immer gut. Wie klasse wäre es gewesen, wenn du bewiesen hättest, dass ein 17 – jähriges Mädchen es wirklich kann – ohne abzuschreiben. Du hättest einige Neider auf dich gezogen, aber über die hättest du lächeln können.

Es gibt bestimmte Spielregeln, an die sich jeder zu halten hat, auch ein Teenager.  Es halten sich nicht alle Erwachsenen daran, leider nein, aber – hey – du hättest es besser wissen müssen, denn du bist schlau und weißt genau, was du willst.

Oder glaubst du wirklich, dass du auf Dauer so weiter kommst? Meinst du, dass nur, wer über Leichen geht, ans Ziel kommt? Ich stelle mir das Vorankommen sehr schwierig vor, denn Leichen birgen zwangsläufig Stolperfallen und das Aufstehen ist auf einem Berg voller Toter kaum zu bewältigen. Wie mag es aussehen, wenn du mit gestreckten Armen jubilierst – unter dir die Leichen, die deinen Weg pflasterten? Ein fälschlicher Sieg und einer der gen Himmel stinkt.

Würdest du wirklich deine Freunde beklauen, wenn es dir nützt? Was sagen deine Freunde dazu?

Oder bist du einfach auf pubertierende Gegenwehr, frei nach dem Motto: Ihr habt was gegen mich, dann seid ihr alle doof?

Das kann ich gut verstehen. Du hast vielleicht nur einen einmaligen Fehler gemacht, wurdest von den Medien in die Ecke getrieben und hast die falschen Antworten gegeben, die anders hätten lauten sollen – du bist eben doch erst 17. Aber nun hacken alle auf dir rum. Gib es nicht nur zu, entschuldige dich und lass die copy & paste – Taste von Fremdtexten.

Alle wären sehr stolz auf dich gewesen, wenn dein Buch tatsächlich aus deiner –  ausschließlich – deiner Feder, aus deiner Phantasie oder deinen eigenen Erlebnisse stammen würde.

Du bist sicherlich vielseitig talentiert, aber über manche Talente, solltest du besser schreiben, als sie verwenden – das wäre ein verdienter Bestseller!

Ich drück dir die Daumen für einen neuen Weg. Und das meine ich ganz ehrlich!

Beste Grüße, Nicole

Mach es wie die Gebrüder Grimm: Erzähl es weiter.